Jetzt sind alle erschrocken über das Finanzdebakel bei der Bahn: Das
Management, die Verkehrspolitiker in Bund und Ländern, die Gewerkschaften. Am
wenigsten staunen vermutlich die Kunden der Bahn, denn die Nachrichten über
neue Milliardendefizite passen zu gut zu ihren eigenen Erfahrungen mit
exorbitanten Verspätungen, schlechtem Service und verrückten Pannen aller Art.
Jetzt wird nach dem Schuldigen gesucht – völlig zu Recht, denn wenn ein
Unternehmen derart ins Trudeln gerät, muss die Verantwortung geklärt werden.
Für den neuen Bahnchef Mehdorn ist die Lage relativ einfach: Zwar hat er
vermutlich nicht geahnt, dass es so schlimm kommen würde, doch jetzt nutzt er
konsequent seinen Spielraum als Sanierer, um die Erblast der beiden Vorgänger Dürr
und Ludewig schonungslos aufzuarbeiten. Beide haben sicher das Ihre zum Debakel
beigetragen, entscheidend ist jedoch die Rolle der Politik. Seit der Bahnreform
von 1994, bei der die Bundesbahn in die privatrechtlich verfasste Deutsche Bahn
AG umgewandelt wurde, hat der Bund die Bahn vernachlässigt, und zwar als Eigentümer
ebenso wie als Marktregulierer. Die Bahnreform ist durch die Versäumnisse der
verschiedenen Bundesregierungen vielleicht noch nicht gescheitert, aber sie
wurde so inkonsequent umgesetzt, dass das Ergebnis einem Scheitern nahekommt.
Jetzt müssen Mehdorn und das neue Management die Scherben zusammenklauben. An
die Börseneinführung der Bahn ist auf Jahre hinaus nicht zu denken.
Wenn die Zahlen in einem Unternehmen so dramatisch schlechter ausfallen, als
es der Vorstand zuvor versprochen hat, dann ist klar, dass der Aufsichtsrat
seiner Rolle nicht gerecht geworden ist. Die Kontrolleure hätten viel früher
eingreifen müssen; nun hat der neue Vorstand deren Versagen im Nachhinein
aufgedeckt. Dies liegt auch daran, dass Personalentscheidungen bei der Bahn bis
vor kurzem noch als politische Angelegenheit betrachtet und Vorstandsposten mit
ehemaligen Politikern besetzt wurden. Und dies wiederum passt nahtlos zu den
zentralen Widersprüchen der Bahnreform: Man hat die Bahn zu einem
privatwirtschaftlichen Unternehmen gemacht, hat sie aber gleichzeitig daran
gehindert, sich wie ein solches zu verhalten. Die Grenze zwischen
betriebswirtschaftlichen und öffentlichen Anforderungen ist fließend geblieben
und die Beziehung zwischen Schienennetz und Bahnbetrieb ungeklärt. Bei so
verschwiemelten Rahmenbedingungen ist es kein Wunder, dass die Bahn ins Abseits
fährt.
Wohlgemerkt: Die Reform des 150 Jahre alten Eisenbahnwesens in
Deutschland ist keine einfache Sache. Sie war unabweisbar, weil die Verluste der
alten Staatsbahn untragbar wurden. Die Erfahrungen anderer Länder sind
gemischt: Schweden hat mit einer gemäßigten Privatisierung Erfolg gehabt, Großbritannien
erlebt mit einem radikalen Konzept ein Desaster, die Schweiz betrachtet die Bahn
als nationale Aufgabe und fährt gut damit. Auch bei der Deutschen Bahn ist
nicht alles schlechter geworden: Seit Beginn der Reform ist die
Arbeitsproduktivität der Eisenbahner um rund dreißig Prozent gestiegen. Aber
Kostensenkungen machen eben noch kein erfolgreiches Unternehmen aus.
Die Bahn soll sich nach dem Willen des Bundes rentieren; wenn sie aber etwas
tut, um dieses Ziel zu erreichen, zum Beispiel Interregio-Züge zu streichen,
die fast leer durch die Lande fahren, dann handelt sie sich wütende Proteste
der Politiker aus Bund, Ländern und Landkreisen ein. Nach der Logik der
Bahnreform sollten das Schienennetz und der Bahnbetrieb voneinander getrennt
werden, um den Wettbewerb auf den Schienen in Gang zu setzen. Vor der letzen
Konsequenz schreckte man jedoch zurück, mit der Folge, dass in Berlin jetzt ein
Kampf zweier Linien tobt: Mehdorn möchte Schienen und Bahnbetrieb wieder voll
integrieren, Wettbewerbspolitiker verlangen dagegen den radikalen Schnitt: Die
Schienen sollen dem Staat gehören, die Bahn sie nur benutzen dürfen. Die
rot-grüne Bundesregierung hat faire Bedingungen für die Bahn auf ihre Fahnen
geschrieben; schlägt jedoch eine Kommission Straßenbenutzungsgebühren vor,
die den Wettbewerb zwischen Schiene und Straße transparent machen würden, dann
lässt man so einen Vorschlag fallen wie eine heiße Kartoffel.
Die Bahn braucht jetzt viel Geld, für Neubaustrecken, um veraltete Züge und
Lokomotiven zu ersetzen und um neue Defizite auszugleichen. Das Geld kann aus
dem Bundeshaushalt kommen, was durchaus den Vorgaben der Bahnreform entsprechen
würde. Geld kann auch von privaten Investoren kommen, aber eben erst dann, wenn
diese eine realistische Chance sehen, auch einen Ertrag zu erwirtschaften. Die
Bahn muss sich dann wirklich wie ein normales Unternehmen verhalten können,
ohne sich um Proteste wegen Streckenstilllegungen oder andere politische Einflüsse
kümmern zu müssen. Die Versorgung des flachen Landes mit Verkehrsinfrastruktur
wäre dann wieder eine öffentliche Aufgabe, bei der die Bahn als ein privater
Anbieter unter vielen eine Rolle spielt, aber nicht mehr.
Solange die Grenzen nicht klar gezogen werden, solange die Politiker von der
Bahn lauter widersprüchliche Dinge verlangen, solange kann das Unternehmen Bahn
nicht gesunden.