SZ vom 07.11.2000 Meinungsseite

Die überforderte Bahn
VON NIKOLAUS PIPER

Jetzt sind alle erschrocken über das Finanzdebakel bei der Bahn: Das Management, die Verkehrspolitiker in Bund und Ländern, die Gewerkschaften. Am wenigsten staunen vermutlich die Kunden der Bahn, denn die Nachrichten über neue Milliardendefizite passen zu gut zu ihren eigenen Erfahrungen mit exorbitanten Verspätungen, schlechtem Service und verrückten Pannen aller Art. Jetzt wird nach dem Schuldigen gesucht – völlig zu Recht, denn wenn ein Unternehmen derart ins Trudeln gerät, muss die Verantwortung geklärt werden.

Für den neuen Bahnchef Mehdorn ist die Lage relativ einfach: Zwar hat er vermutlich nicht geahnt, dass es so schlimm kommen würde, doch jetzt nutzt er konsequent seinen Spielraum als Sanierer, um die Erblast der beiden Vorgänger Dürr und Ludewig schonungslos aufzuarbeiten. Beide haben sicher das Ihre zum Debakel beigetragen, entscheidend ist jedoch die Rolle der Politik. Seit der Bahnreform von 1994, bei der die Bundesbahn in die privatrechtlich verfasste Deutsche Bahn AG umgewandelt wurde, hat der Bund die Bahn vernachlässigt, und zwar als Eigentümer ebenso wie als Marktregulierer. Die Bahnreform ist durch die Versäumnisse der verschiedenen Bundesregierungen vielleicht noch nicht gescheitert, aber sie wurde so inkonsequent umgesetzt, dass das Ergebnis einem Scheitern nahekommt. Jetzt müssen Mehdorn und das neue Management die Scherben zusammenklauben. An die Börseneinführung der Bahn ist auf Jahre hinaus nicht zu denken.

Wenn die Zahlen in einem Unternehmen so dramatisch schlechter ausfallen, als es der Vorstand zuvor versprochen hat, dann ist klar, dass der Aufsichtsrat seiner Rolle nicht gerecht geworden ist. Die Kontrolleure hätten viel früher eingreifen müssen; nun hat der neue Vorstand deren Versagen im Nachhinein aufgedeckt. Dies liegt auch daran, dass Personalentscheidungen bei der Bahn bis vor kurzem noch als politische Angelegenheit betrachtet und Vorstandsposten mit ehemaligen Politikern besetzt wurden. Und dies wiederum passt nahtlos zu den zentralen Widersprüchen der Bahnreform: Man hat die Bahn zu einem privatwirtschaftlichen Unternehmen gemacht, hat sie aber gleichzeitig daran gehindert, sich wie ein solches zu verhalten. Die Grenze zwischen betriebswirtschaftlichen und öffentlichen Anforderungen ist fließend geblieben und die Beziehung zwischen Schienennetz und Bahnbetrieb ungeklärt. Bei so verschwiemelten Rahmenbedingungen ist es kein Wunder, dass die Bahn ins Abseits fährt.

Wohlgemerkt: Die Reform des 150  Jahre alten Eisenbahnwesens in Deutschland ist keine einfache Sache. Sie war unabweisbar, weil die Verluste der alten Staatsbahn untragbar wurden. Die Erfahrungen anderer Länder sind gemischt: Schweden hat mit einer gemäßigten Privatisierung Erfolg gehabt, Großbritannien erlebt mit einem radikalen Konzept ein Desaster, die Schweiz betrachtet die Bahn als nationale Aufgabe und fährt gut damit. Auch bei der Deutschen Bahn ist nicht alles schlechter geworden: Seit Beginn der Reform ist die Arbeitsproduktivität der Eisenbahner um rund dreißig Prozent gestiegen. Aber Kostensenkungen machen eben noch kein erfolgreiches Unternehmen aus.

Die Bahn soll sich nach dem Willen des Bundes rentieren; wenn sie aber etwas tut, um dieses Ziel zu erreichen, zum Beispiel Interregio-Züge zu streichen, die fast leer durch die Lande fahren, dann handelt sie sich wütende Proteste der Politiker aus Bund, Ländern und Landkreisen ein. Nach der Logik der Bahnreform sollten das Schienennetz und der Bahnbetrieb voneinander getrennt werden, um den Wettbewerb auf den Schienen in Gang zu setzen. Vor der letzen Konsequenz schreckte man jedoch zurück, mit der Folge, dass in Berlin jetzt ein Kampf zweier Linien tobt: Mehdorn möchte Schienen und Bahnbetrieb wieder voll integrieren, Wettbewerbspolitiker verlangen dagegen den radikalen Schnitt: Die Schienen sollen dem Staat gehören, die Bahn sie nur benutzen dürfen. Die rot-grüne Bundesregierung hat faire Bedingungen für die Bahn auf ihre Fahnen geschrieben; schlägt jedoch eine Kommission Straßenbenutzungsgebühren vor, die den Wettbewerb zwischen Schiene und Straße transparent machen würden, dann lässt man so einen Vorschlag fallen wie eine heiße Kartoffel.

Die Bahn braucht jetzt viel Geld, für Neubaustrecken, um veraltete Züge und Lokomotiven zu ersetzen und um neue Defizite auszugleichen. Das Geld kann aus dem Bundeshaushalt kommen, was durchaus den Vorgaben der Bahnreform entsprechen würde. Geld kann auch von privaten Investoren kommen, aber eben erst dann, wenn diese eine realistische Chance sehen, auch einen Ertrag zu erwirtschaften. Die Bahn muss sich dann wirklich wie ein normales Unternehmen verhalten können, ohne sich um Proteste wegen Streckenstilllegungen oder andere politische Einflüsse kümmern zu müssen. Die Versorgung des flachen Landes mit Verkehrsinfrastruktur wäre dann wieder eine öffentliche Aufgabe, bei der die Bahn als ein privater Anbieter unter vielen eine Rolle spielt, aber nicht mehr.

Solange die Grenzen nicht klar gezogen werden, solange die Politiker von der Bahn lauter widersprüchliche Dinge verlangen, solange kann das Unternehmen Bahn nicht gesunden.


back
to the Roots of Wrdl Brmfd